Dieses Gespräch erschien am 02.03.2022 auf Faustkultur.
»Oft wird nicht richtig verstanden, was mit “Heilung” gemeint ist. Zudem diskutieren wir hier über Wunden, die nicht mehr heilen können. Die mögliche Entwicklung künftiger Generationen wurde systematisch und unwiederbringbar mit dem Kolonialismus zerstört. Was ist das also für eine Art von Heilung, über die wir hier sprechen? Jedenfalls keine, die sich mit einer Rückgabe einst gestohlener Objekte erledigt hat. Uns geht es um einen eher ganzheitlichen Ansatz, der auch Heilung neu denkt.«
Im Oktober 2019, sagt Mahret Ifeoma Kupka in unserem Gespräch, das wir im Herbst 2021 in Frankfurt am Main, unweit des Museum Angewandte Kunst führen, erreichte sie eine E-Mail der freien Berliner Kuratorin Isabel Raabe. Sie schlug ihr ein Projekt vor, Kupka war von der Idee angetan. Beide kuratieren seitdem den Think Tank TALKING OBJECTS LAB. Kreativ, performativ, diskursiv entsteht derzeit – in Kenia, Senegal und Deutschland – ein transnationales Experimentierfeld mit Objekten und Vorstellungswelten. Die Idee dahinter ist, das westliche Verständnis von Kunstobjekten und kultureller Aneignung herauszufordern. Mehr noch. Es schließt die Vorstellung mit ein, Wissen zu ent-westlichen und Denkmuster aufzulösen und neu zu verknüpfen. Der Soziologe Boaventura de Sousa Santos nennt die systematische Auslöschung von Wissen, die nicht dem europäischen Wissenssystem entsprechen, „Epistemizid“. Das Projekt stellt sich die Frage, was Wissen jenseits dieser europäischen Wissenssysteme heute ist und sein kann.
Frau Kupka, wie kann ein Prozess, den Sie TALKING OBJECTS nennen, in Gang gesetzt werden. Wie können die vielen tausend Objekte, die in den Museen der Europäer in düsteren Kellern verstummt sind, zum Sprechen gebracht werden? Wer hat das Wissen und findet den Zugang, um über ihre Herkunftsgeschichte Auskunft zu geben?
Mahret Ifeoma Kupka: Die Objekte aus Afrika, die nach Europa gelangten, tragen viel mehr Geschichten in sich als die eine Geschichte darüber, wo sie ursprünglich herkamen. Wenn man diese Objekte zu lesen versteht, so erzählen sie von ihrer Herkunft aber auch von ihrer Reise, ihrer Ankunft und den Umständen, unter denen sie hier ausgestellt wurden oder in den Depots der Museen unsichtbar geworden sind. Insofern ist es wichtig, die Geschichten zu finden, die von der Herkunft erzählen, aber auch von dem, was danach passierte, und dieses Wissen haben wir hier in Europa. Ich halte es für problematisch, sich zu sehr auf die Herkunftsgeschichten zu fixieren. Vielleicht ist die Geschichte eines Objektes längst verloren. Zudem ist eine heute erzählte Geschichte immer auch eine Erfindung von Vergangenheit. Viel interessanter ist doch die Frage, welche Möglichkeiten wir heute haben, Bedeutungszusammenhänge wiederzufinden und neu zu schaffen.
Ist das ein konkreter Ansatz, den Sie beide mit TALKING OBJECTS LAB verfolgen?
In jedem Fall. Es geht und gar nicht so sehr um reale Objekte, sondern vielmehr um das, wofür sie standen und heute stehen, bzw. stehen könnten oder auch gestanden haben könnten, wären sie nicht geraubt worden. Insofern ist das „Talking“, also das Sprechen für uns wichtiger als das Objekt selbst. In europäischen Museen erzählen die Dinge zuvorderst ihre koloniale Geschichte, das heißt gewaltvolle Geschichten von Raub und Entwurzelung. Man könnte doch versuchen, sich auf folgendes Gedankenspiel einzulassen. Wenn man sich vorstellt, all diese geraubten Objekte, die wohl neunzig Prozent des kulturellen Erbes des afrikanischen Kontinents ausmachen, wären dortgeblieben. Was wäre dann gewesen? Ich kann diese Frage nicht beantworten, aber wir müssen begreifen, dass diese Lücke, die die Objekte hinterlassen haben, einfach eine Tatsache ist, die wiederum auch Teil ihrer Geschichte ist.
Wie können die Kulturgüter, die sich im Besitz von Institutionen im Globalen Norden befinden, für die heutigen Gesellschaften zum Beispiel in Kenia zugänglich gemacht werden?
Diese Frage stellen wir uns so direkt mit TALKING OBJECTS LAB nicht. Allerdings greifen unsere Überlegungen mit denen anderer Projekte, wie beispielsweise dem „International Inventories Programme“, das sich genau dieser Frage widmet, ineinander. Das vom Goethe Institut geförderte Projekt hat 18.000 kenianische Kulturgüter inventarisiert, die sich als Sammlungsobjekte in deutschen Museen befinden. Das Museum für Weltkulturen in Frankfurt zeigte kürzlich die Ausstellung „Invisible Inventories. Zur Kritik kenianischer Sammlungen in westlichen Museen“. Ich habe mir die Ausstellung, die sich auf vielseitige Weise mit dem Verlust der einzelnen Objekte, die auf dieser „Datenbank“ aufgeführt sind, schon in Köln im Rautenstrauch-Joest-Museum angeschaut. Die Künstlerkollektive The Nest und SHIFT, mit denen wir auch zusammenarbeiten, sind aktive Mitglieder dieses Programmes. Ich habe NEST Collective (https://www.thisisthenest.com/) bei einem Forschungsaufenthalt in Kenia und Tansania kennengelernt und vorgeschlagen, sie in unser Konzept mit einzubeziehen. Wir nehmen den Faden auf und denken die Forschungsergebnisse gemeinsam weiter. Wie beispielsweise im Dezember in Dakar zusammen mit unserem Projektpartner dort dem Musée Théodore Monod, vertreten durch El Hadji Malick Ndiaye. Mit Caroline Gueye und Viyé Diba brachten wir zwei Künstler*innen zusammen, die in Auseinandersetzung mit Objekten der Sammlung ein neues Objekt, samt Reflektion darüber entwickelten. Das ist genau das, was wir wollen. Den Raum schaffen, in dem etwas Neues entstehen kann, in dem sich neue Geschichten erzählen lassen, aus den Geschichten der existierenden Objekte heraus.
Gab es etwas, was Sie Ihnen in der Erinnerungsarbeit bei NEST besonders aufgefallen ist im Hinblick auf die Diskussion über die Zukunft der Objekte?
Ich fand es bemerkenswert, dass sie einen ökonomischen Aspekt in den Blick nehmen, den kaum jemand bislang in der Debatte erwähnt hat. Zugespitzt gefragt: Wem kommen eigentlich die Einkünfte zugute, die mit dem Eintritt in Ausstellungen erzielt werden? Einzelne Objekte werden zu Aushängeschildern von Sammlungen. Insofern wird die Ausbeutung, der Raub noch immer weitergeführt. Das ist doch ein interessanter Gedanke. Der Raub ist noch immer im Prozess.
Lassen Sie uns auf den Begriff Identität zu sprechen kommen. Der Kurator Tuma Muteba Luntumbue meinte letztlich zu mir, der Begriff sei eine Falle, wenn er im Sinne von Einzigartigkeit oder Authentizität gedeutet wird. Sie setzten sich in theoretischen Schriften mit Identitätskonzepten auseinander. Wie wichtig ist Ihnen der Begriff „Schwarze Identität“?
Absolut wichtig und absolut unwichtig zugleich. Zudem kommt es auch immer darauf an, worüber gerade gesprochen wird, ob es in einem bestimmten Kontext wichtig ist, auf eine Markierung zu verweisen oder eben nicht. „Schwarz“, das ist ganz wichtig, ist ja keine Erfindung von als Schwarz markierten Personen, sondern Resultat eines auf vermeintlich rassischen Unterschieden basierenden historisch gewachseneren Systems, von – wenn man in den Kategorien sprechen will – Weißen erfunden. Insofern existiert die Kategorie biologisch zwar nicht, kulturell aber sehr wohl und daher kann es auch so etwas wie eine „Schwarze Identität“ geben, wobei hier auch zwischen Zuschreibung und Selbstaneignung unterschieden werden muss. In Debatten um Identität gerät meiner Ansicht nach immer vieles durcheinander. Bei Politik, die vermeintlich auf Identität basiert, geht es vor allem darum, strukturelle Ausschlussmechanismen sichtbar zu machen und damit auch überwindbar. Das Ziel ist eine inklusive Gesellschaft, in der alle gleichwertig miteinander verschieden sein können. Dazu muss aber erstmal hingeschaut werden, wer überhaupt alles da ist. Es muss einander zugehört werden und es muss Räume geben, in denen von Gewalterfahrungen gesprochen werden kann.
Sie haben sich für eine Residency in Nigeria im Rahmen des TURN2 Programms der Kulturstiftung des Bundes beworben. Noch in diesem Jahr werden sie zwei Monate in Lagos verbringen und zeitgenössische Mode und Textilien erforschen. Warum?
Mich interessieren Stoffe und Drucke und die Geschichten, die sie erzählen. Aktuell arbeiten sehr viele junge, afrikanische und afro-diasporische, international erfolgreiche Designer*innen mit traditionellen Herstellungsverfahren und Färbetechniken. Alte Techniken werden wieder entdeckt und mit aktuellen Trends kombiniert. Oft entstehen interessante Hybride. Traditionen werden so am Leben gehalten und neu besetzt. Für mich hat das auch einen heilenden Aspekt.
Ihr anderes großes Thema, das Sie interessiert`?
Ja, und das ist auch ein wichtiger Aspekt in unserem Projekt TALKING OBJECTS LAB, um den großen Bogen zu schließen. Natürlich geht es um die Rückgabe von Objekten, aber es geht auch – fast schon viel wichtiger – um Heilung. Denn allein mit der Rückgabe ist es längst nicht getan.
Darum geht es nicht?
Nein. Es geht auch nicht so sehr darum, Schuld zu diskutieren. Dieser koloniale Raubzug ist geschehen: Gemeinschaften und Orten wurde eine tiefe Verletzung zugefügt, die bis heute wirkt. Ein Objekt wurde von seinem ursprünglichen Ort – und ich meine das auch metaphorisch – entfernt, und dort ist eine Lücke geblieben, eine offene Wunde, die wuchert und immer daran erinnert, was einmal da gewesen und jetzt verloren ist. Wie werden wir jetzt mit dieser Lücke umgehen?
„Healing” (Heilung) ist in den letzten Jahren zu einem häufig verwendeten Schlagwort in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten geworden.
Oft wird nicht richtig verstanden, was mit “Heilung” gemeint ist. Zudem diskutieren wir hier über Wunden, die nicht mehr heilen können. Die mögliche Entwicklung künftiger Generationen wurde systematisch und unwiederbringbar mit dem Kolonialismus zerstört. Was ist das also für eine Art von Heilung, über die wir hier sprechen? Jedenfalls keine, die sich mit einer Rückgabe einst gestohlener Objekte erledigt hat. Uns geht es um einen eher ganzheitlichen Ansatz, der auch Heilung neu denkt. Heil ist, was ganz ist, was vollständig ist und das steht nicht im Widerspruch mit Wunden und Narben. Diese müssen als Tatsachen mit integriert werden. Der Begriff De-kolonisierung klingt zunächst vielleicht so, als würde etwas weggenommen werden, dekonstruiert, abgebaut, dabei geht es bei dem Prozess eigentlich um eine Vollständigmachung, das heißt es werden die fehlenden, verschwiegenen, gewaltsam ausgegrenzten Teile ins Ganze integriert.
Dr. Mahret Ifeoma Kupka ist Kunstwissenschaftlerin, freie Autorin und seit 2013 Kuratorin für Mode, Körper und Performatives am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Dort kuratierte sie zuletzt die Ausstellung „Life doesn’t frighten me. Michelle Elie wears Comme des Garçons“ – eine Hommage an die japanische Designerin Rei Kawakubo und eine Reflexion auf die Repräsentation von Schwarzer Körperlichkeit in weißen Museumsräumen.
In ihren Ausstellungen, Vorträgen, Texten und interdisziplinären Projekten befasst sich Kupka mit den Themen Rassismus, Erinnerungskultur, Repräsentation und der Dekolonisierung von Kunst- und Kulturpraxis in Europa und auf dem afrikanischen Kontinent. Sie ist im Beirat der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) e.V. und Gründungsmitglied der Neuen Deutschen Museumsmacher*innen. 2015 promovierte sie an der HfG in Karlsruhe mit einer Dissertation zum Thema “Modeblogs und der Mythos der Revolutionierung der Mode”. Seit 2019 erarbeitet sie mit der freien Kuratorin und Projektentwicklerin Isabel Raabe sowie mit Partner*innen in Kenia und Senegal die Veranstaltungsreihe TALKING OBJECTS LAB.