Wenn den Kolonialmächten die Kraft ausgeht, werden die Objekte zurückkehren

Ein Gespräch zwischen Njoki Ngumi und Jim Chuchu

The Nest Collective, 2012 in Kenia gegründet als multidisziplinäres Künstler*innenkollektiv, arbeitet mit den Methoden angewandter Forschung im Bereich Film, Mode, Literatur und anderer Medien. Das Kollektiv gehört zu den Gründern des International Inventories Programme (IIP), eines internationalen Forschungs- und Ausstellungsprojekts, das sich mit der Tatsache – und deren Implikationen – befasst, dass sich Objekte afrikanischen, insbesondere kenianischen, Ursprungs in den Museen des Globalen Nordens befinden. Es geht dabei vor allem um Gegenstände ungeklärter Herkunft, um mangelhafte Daten und das fehlende Wissen über ihre historischen Hintergründe.  The Nest Collective ko-kuratiert Unexpected Lessons, ein Projekt mit digitalen und analogen Diskussionsrunden, Vorträgen und künstlerischer Vermittlung zum Thema Dekolonisation von Wissen und Erinnerung, das im Juni 2021 zeitgleich in Berlin und Nairobi stattfindet. Das Thema der Restitution beschäftigt schon seit einer Weile die Öffentlichkeit. Regierungen und Institutionen wird vorgeworfen, den Rückgabeprozess durch politische und bürokratische Hürden unnötig zu verzögern. Diese Diskussion spiegelt sich auch im zunehmenden Widerstand einer europäischen Öffentlichkeit, die sich nicht länger mit der staatlichen Rechtfertigung öffentlicher Museen zufriedengeben will, die in ihren Sammlungen über Gegenstände geraubter Kunst verfügen. Ein Beispiel dafür ist das Humboldt Forum in Berlin, bei dem kurz vor der Eröffnung Kritik an der Ausstellung zahlreicher geraubter Objekte laut wurde. Historiker*innen und Antirassismus-Aktivist*innen in Deutschland verlangen von dem Museum eine Erklärung, wie Tausende von Statuen aus Bronze und Messing und Elfenbeinschnitzereien, die 1897 von britischen Soldaten aus dem Königspalast von Benin (dem heutigen Edo in Südnigeria) geraubt wurden, nach Europa gelangten. Obwohl die nigerianische Regierung die Rückkehr der sogenannten Benin-Bronzen gefordert hat, verbleiben sie weiterhin in Privatsammlungen und europäischen Museen wie dem British Museum in London, das für seine Weigerung, die rund 950 Benin-Bronzen zurückzugeben, besonders scharf kritisiert wird. Im November 2020 haben französische Parlamentarier*innen dafür votiert, 27 Objekte aus den Museen des Landes im Laufe des Jahres 2021 an Benin und Senegal zurückzugeben. Diese Entscheidung haben Njoki Ngumi und Jim Chuchu von The Nest Collective zum Anlass genommen, über den verstörenden Status quo der ungleichen Machtverteilung zwischen den Staaten zu sprechen – und die Möglichkeiten, ihn zu untergraben.

Njoki Ngumi Ich bleibe immer wieder an der Formulierung des französischen Kulturministers hängen, die Rückgabe von 27 Objekten an Benin und Senegal, sei „kein Akt der Reue, sondern ein Akt der Freundschaft und des Vertrauens“. Nicht im Ernst, oder? 

Jim Chuchu Eine in der Tat irritierende Aussage. Wer kann für sich die Deutungshoheit über eine solche Geste beanspruchen? Hat die Empfängerseite überhaupt die Möglichkeit zu sagen: „Tut uns leid, aber wir sehen das anders?“

NN Der globale Norden gibt die Terminologie vor, und alle anderen haben sich danach zu richten. Und wenn sie das nicht tun, heißt es, sie würden einen Streit wegen bloßer Formulierungen vom Zaun brechen. Das entspricht genau der Sandkastenkönigsmentalität, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass die Vorfahren dieser Leute anderen die Objekte weggenommen haben.

JC Es macht mich wütend, dass die Regierungen von Benin und Senegal sich nicht gegen diese Aussage verwahrt haben, im Sinne von: „Sorry, damit kommt ihr nicht durch.“ Haben Afrikaner*innen vielleicht deshalb nicht das Recht offen zu reden, weil wir von neoliberalen Marktmechanismen abhängig sind?

NN Die Diskussion über Objekte verdeutlicht das offensichtliche Missverhältnis bei der Verteilung von Macht. Vor den Vereinten Nationen mögen wir uns als Gleichberechtigte fühlen, aber da immer noch der Globale Norden mit seinem Geld das Impfen unserer Kinder bezahlt und seine Finanzmittel in die afrikanische Landwirtschaft, Wasserversorgung, Gesundheit und Infrastruktur investiert, riskieren unsere Regierungen keine diplomatischen Dissonanzen wegen geraubter Gegenstände, weil sie sonst das ganze Haus, das die Herren Kolonialisten sich gezimmert haben, zum Einsturz brächten.

JC Das enorme Interesse, das der Globale Norden an der Semantik dieser Austauschprozesse hat, ist geradezu obszön. Warum ist es ihm so wichtig, auch noch den Kampf um die Deutungshoheit zu gewinnen, wo die Machtverhältnisse zwischen ihm und uns ohnehin schon zu seinen Gunsten entschieden sind? Man könnte das entweder als kleinlich und rachsüchtig abtun oder als klares Zeichen dafür sehen, dass man sich der Macht bewusst ist, die in dieser Deutungshoheit steckt. Was hat das Wort „Freundschaft“ überhaupt in einem Austausch auf Basis einer Geschichte der Gewalt zu suchen?

NN Es ist geradezu absurd. Das erinnert mich an Familienfotos, auf denen die Leute lächeln sollen, obwohl sie stinksauer sind – nur damit man hinterher sagen kann, was für eine schöne Zeit man doch miteinander hatte. Fröhliche Gesichter, um alte Konflikte zu vertuschen. Wie das eben bei Familien und anderen Gemeinschaftsverhältnissen üblich ist, oder?

JC In den vergangenen Monaten habe ich dir immer wieder gesagt, dass ich mir in der Frage der Restitution keinerlei Hoffnungen auf eine sinnstiftende Lösung mache. Wir arbeiten seit zwei Jahren an diesem IIP-Projekt und haben dabei vor allem etwas über die unzähligen technischen Fragen der Machbarkeit, über Erklärungen, Regeln und Gesetze gelernt, die der Rückgabe der Objekte entgegenstehen. Als Macron mit Aplomb eine Restitution verkündet hat, war ich sehr enttäuscht darüber, dass eine der ersten Reaktionen 

aus Afrika – von der französischen Presse genüsslich zitiert – die von Simon Njami war, dem Herausgeber des in Paris erscheinenden Kunstmagazins Revue Noire, der die Entscheidung als „albernes Versprechen, das nie über bloße Rhetorik hinausgehen würde“, bezeichnet hat. Bei allem Respekt für Simon – dieser Spruch war dermaßen zynisch und ließ keinerlei Spielraum für anderslautende Reaktionen auf Macrons Aussage. Es lief letztlich auf die Beibehaltung des Status quo hinaus. Wie soll es uns je gelingen, repressive Strukturen zu zerschlagen, wenn wir unseren Pessimismus so überschwänglich in die Welt hinaustragen? Ist Zynismus die einzige Botschaft, die ältere Afrikaner*innen der jüngeren Generation mit auf den Weg geben können?

NN Wenn wir uns lange genug mit sämtlichen fragwürdigen Strukturen beschäftigen – das haben uns diese beiden Jahre im IIP-Projekt gelehrt –, stoßen wir immer wieder auf dieselben Fehlfunktionen. Simons Zynismus würde komplexer daherkommen, denke ich, wenn er seine Gedanken in einem breiteren Kontext erläutern würde, als es ein kurzes Zitat in der Presse hergibt, eben wegen der zahlreichen Unwägbarkeiten, von denen du sprichst. Das System war ja von vornherein als Einbahnstraße für diese Objekte konzipiert. Wenn es das ist, was er sagen wollte, hat Simon durchaus recht. Wir haben es hier mit vielen möglichen Wahrheiten zu tun, und seine, so qualvoll sie auch ist, ist eine davon.

JC Du hast schon immer diese Position einer Pluralität koexistierender Wahrheiten vertreten – eine Idee, mit der ich Probleme habe. Am ehesten kann mich damit anfreunden, wenn ich mir vorstelle, dass Wahrheiten nicht an den Rändern des Spektrums zu finden sind, sondern in der Gesamtheit dessen, was zwischen den Polen liegt. Im Fall der Restitution, um ein Beispiel zu nennen, geht es vielleicht weniger darum, ob die Objekte zurückkehren oder nicht, sondern um das dystopische Gemenge dazwischen – um diese Mischung aus Kompromiss und Feigheit der Institutionen, um die Auslöschung von Erinnerung und Geschichtsrevision. Zusammengenommen bildet all das die Wahrheit des Themas Objektrückgabe. Diese Gemengelage wird, fürchte ich, so bald keine sinnreiche Art der Objektrückgabe zulassen. Damit meine ich eine Form der Restitution, die mehr bedeutet als das Bewegen von Stücken aus altem Holz und Stein und Haut, die vielmehr die hinterlassenen Leerstellen und den durch den illegitimen Raub verursachten Schmerz eingesteht. In unserer Generation ist die Frage nach Restitution abstrakt, weil wir mit diesem Mangel aufgewachsen sind, während frühere Generationen, die Zeuge des Raubs ihrer Kultur wurden, das Problem nicht lösen konnten und es der nächsten und übernächsten Generation überlassen mussten.

NN Über binäre Gegensätze lassen sich komplexe Dinge vereinfacht darstellen. Und dieses Vorgehen bietet sich besonders für politische oder PR-Zwecke an. Aber das wahre Leben ist ein komplex gewobenes Netz, für das Simplifizierungen zu kurz greifen – mögen sie auch noch so verlockend sein. Ich glaube durchaus, dass eine sinnstiftende Art der Restitution möglich ist. Das wahrscheinlichere Resultat eines Engagements in dieser Sache wird allerdings nicht die vollständige Rückgabe der geraubten Gegenstände sein, sondern eher verschiedene Formen der Restitution einzelner Objekte durch unterschiedliche Leute. Das ist meine Hoffnung. Auf demselben dystopischen Büffet, auf dem dieses Gemenge aus Kompromiss und Feigheit serviert wird, steht noch eine weitere dystopische kulinarische Mischung: die optische Wahrnehmung, der Erfolg der „Black Lives Matter“-Bewegung, unterstützt von Menschen weißer Hautfarbe mit fragwürdigen Vorfahren und dem Wunsch nach Erlösung ihrer Seele.

JC Ich danke dir für den Hinweis auf den Begriff der optischen Wahrnehmung zur Beschreibung dieser Situation. Eben hatten wir über semantische Verdrehungen gesprochen, wobei Semantik und Optik zur gleichen Familie gehören. Ich stehe mit der Befürchtung nicht allein da, dass wir in einer Welt leben, in der das Einzige, was bei Aktivismus herauskommt, unter die Begriffe Semantik und Optik fällt, und dass die wenigsten Bewegungen tatsächlich ihre Ziele auch nur ansatzweise erreichen.

Stattdessen eignen sich die jeweiligen Unterdrücker*innen die Sprache, die Semantik und die Optik an, die es ihnen gestattet, mit einem Minimum an tatsächlicher Anpassung weiterzumachen wie bisher. Wir leben im Zeitalter der Optik. Wenn – wie im obigen Beispiel – die unterdrückten Parteien (Minderheiten, Afrikaner*innen, People of Colour) diese Zuschreibung nicht ganz klar von sich weisen, wäre das dann nicht so, als würde man mit einem Buttermesser in eine Schlacht ziehen?

NN Diese Analogie gefällt mir. Wer sich diese Maßanzüge aus „Freundschaft und Vertrauen“ anzieht, sagt nichts anderes als: „Früher kamen wir mit Waffen, aber die haben wir jetzt zu Hause gelassen“. Sobald wir mit irgendetwas Schärferem als einem Buttermesser in den Diskurs gehen, sieht es so aus, als wären wir diejenigen, die einen Kampf anzetteln wollen.

JC Erzähl mir ein bisschen mehr über dieses optimistische Gemenge. Welche Gesten kannst du in diesem Brei ausmachen? Denn alles, was ich für die nächsten zehn, zwanzig Jahre voraussehen kann, sind weitere solcher „Freundschaftsgesten“ durch hochgradig unfreundliche Staaten. Ich erahne die Rückgabe eines winzigen Teils von Objekten im Rahmen von unhaltbaren Kreditabkommen, die den Staaten und ihren Institutionen erlauben, ein Schuldeingeständnis zu vermeiden. Diese semantischen Spielchen häufen sich dann über Jahre des Leugnens und des Revisionismus hinweg, in denen sie alternative Tatsachen schaffen und die Geschichte neu schreiben.

NN Du hast recht – auch wenn es nicht hundertprozentig sicher ist, dass es dazu kommt. Wir sollten noch Raum für eine Wahrheit lassen, die wir noch nicht genau ausloten können. Die Vorstellung, dass afrikanische Staaten jemals unabhängig werden konnten, schien so lange absurd, bis die Kolonialist*innen auf ihren Schiffen und Flugzeugen den Heimweg antraten – für damalige Zyniker*innen ein unfassbarer Vorgang. Außerdem haben wir noch nicht die Möglichkeit berücksichtigt, dass die einstigen Kolonialmächte des Globalen Nordens irgendwann des immensen Gewichts ihrer selbstauferlegten Pflichten als Hüter eines „universellen Wissens“ müde werden – selbst wenn sie derzeit der Realität einer vielfältigen Welt, in der diverses Wissen sich gleichberechtigt und unhierarchisch miteinander verbindet, nichts abgewinnen können, sofern sie sie überhaupt wahrnehmen.

JC Die Kolonialmächte? Müde? Von wegen!

NN Griechenland ist untergegangen. Rom ist untergegangen. Sie wurden zu groß, zu schwerfällig und unberechenbar.

JC Gut, lassen wir das als Hoffnung am Horizont stehen. Die Vorstellung, dass die Objekte zurückkehren, wenn den Kolonialmächten die Kraft ausgeht.

NN Vielleicht. Und manche werden den Anfang machen, möglicherweise noch in dieser Generation.

Aus dem Englischen von Karin Betz

© Njoki Ngumi
© Jim Chuchu

Jim Chuchu

Geschäftsführer des The Nest Collective, ist Filmemacher, Musiker und bildender Künstler. Seine Fotografien und künstlerischen Arbeiten wurden auf der ganzen Welt ausgestellt. Seine serielle Videoarbeit Invocations ist Teil der Sammlung des Smithsonian National Museum of African Art in Washington. Nach der Gründung von The Nest Collective war er in den Jahren 2012 bis 2019 für die Inszenierung der Film- sowie die Produktion der Musikprojekte des Kollektivs verantwortlich. Er leitet die strategische Planung und Programmgestaltung.

Njoki Ngumi

Künstlerin, Schriftstellerin und feministische Theoretikerin, war im privaten und öffentlichen Gesundheitswesen Kenias tätig. Als Gründungsmitglied von The Nest Collective war sie Co-Autorin, Drehbuchautorin und Drehbuch-Supervisorin für mehrere Filmprojekte, derzeit ist sie Co-Regisseurin von The Feminine and The Foreign. Sie begleitet und begutachtet die Postproduktion sowie den strategischen und wissenschaftlichen Output von The Nest Collective, koordiniert externe Kooperationsprojekte und leitet inhaltlich wie strategisch die Programmplanung des Schwesterunternehmens HEVA.

Referenzen

Vgl. Kat Brown, The Humboldt Forum in Berlin. Finally (Almost) Ready for the Public, Wears Germany’s History Like a Crown of Thorns, in: Artnet News (11.12. 2020), HYPERLINK "https://news.artnet.com/opinion/humboldt-forum-walkthrough-1930727"https://news.artnet.com/opinion/humboldt-forum-walkthrough-1930727, zuletzt am 30.1.2021.
Vgl. Hakim Bishara, Artists and Cultural Workers Oppose Humboldt Forum Opening, Citing Colonial Ties, in: Hyperallergic (16.12.2020), HYPERLINK "https://hyperallergic.com/609318/humboldt-forum"https://hyperallergic.com/609318/humboldt-forum, zuletzt am 30.1.2021.
Vgl. Funmi Adebayo, Nigeria’s Benin Bronzes. It’s not the place of the British to decide their fate, in: The Africa Report (24.9.2020), HYPERLINK "https://www.theafricareport.com/42855/nigerias-benin-bronzes-its-not-the-place-of-the-british-to-decide-their-fate"https://www.theafricareport.com/42855/nigerias-benin-bronzes-its-not-the-place-of-the-british-to-decide-their-fate, zuletzt am 30.1.2021.
Claire Selvin, France Will Return Objects to Senegal and Benin Within a Year, in: ArtNews (5.11.2020), HYPERLINK "https://www.artnews.com/art-news/news/france-benin-senegal-restitution-1234575902"https://www.artnews.com/art-news/news/france-benin-senegal-restitution-1234575902, zuletzt am 30.1.2021.
Vgl. EU to provide 20 billion euros for Africa and Latin America to fight coronavirus, Reuters (8.4.2020), HYPERLINK "https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-eu-aid-idUSKCN21Q2JI"https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-eu-aid-idUSKCN21Q2JI, zuletzt am 30.1.2021.
Vgl. Vincent Noce, „Give Africa its art back“, Macron’s report says, in: The Art Newspaper (20.11.2018), HYPERLINK "https://www.theartnewspaper.com/news/give-africa-its-art-back-macron-s-report-says"https://www.theartnewspaper.com/news/give-africa-its-art-back-macron-s-report-says, zuletzt am 30.1.2021.
Lynsey Chutel, France will have to change its laws to return its looted African art, in: Quartz Africa (22.11.2018), HYPERLINK "https://qz.com/africa/1473023/france-should-return-looted-african-artifacts-says-report"https://qz.com/africa/1473023/france-should-return-looted-african-artifacts-says-report, zuletzt am 30.1.2021.
Vgl. Nicole Rovine, Engage In Non-Optical Allyship For Black Lives Matter, in: The Cornell Daily Sun (7.6.2020), HYPERLINK "https://cornellsun.com/2020/06/07/engage-in-non-optical-allyship-for-black-lives-matter"https://cornellsun.com/2020/06/07/engage-in-non-optical-allyship-for-black-lives-matter, zuletzt am 30.1.2021.